„Dresdner Stollen“ ist vor allem ein eingetragener Markenname, mit dem sich viel Geld verdienen lässt. Doch das Epizentrum des christlichen Traditionsgebäcks liegt seit fast 100 Jahren im mittelsächsischen Grimma.
Von Dr. Benedikt Vallendar, freier Journalist
Grimma – Ohne Puderzucker. Dafür goldgelb gebacken und mit viel guter Butter. Das zeichnet ihn aus, Stollen aus dem mittelsächsischen Grimma, knapp neunzig Kilometer nordwestlich von Dresden. Doch was nur Wenige wissen: Der bekannte „Dresdner Stollen“ ist vor allem ein seit 2010 eingetragenes Markenzeichen, mit dem sich viel Geld verdienen lässt. Und was noch weniger bekannt ist: Das Epizentrum der sächsischen Stollenproduktion liegt schon seit Mitte der zwanziger Jahre weit vor den Toren der Landeshauptstadt, was die markenbewussten Gralshüter des Eigennamens „Dresdner Stollen“ aber nur ungern hören möchten.
Sozusagen das „Epizentrum im Epizentrum“ der sächsischen Stollenbäckerei ist das Grimmaer Familienunternehmen Haferkorn in der Goethestraße 14, wo zur Adventszeit ein knappes Dutzend Angestellter Tag um Tag daran werkelt, um der weltweiten Nachfrage nach dem süßen Traditionsgebäck aus dem Herzen des Freistaates gerecht zu werden.
Mehrere Preise
Inhaber Bernd Haferkorn begann 1978 seine Lehre, wechselte danach in den elterlichen Betrieb und machte später seinen Meister. Seit 1987 sind er und seine Frau Katrin verheiratet, haben einen gemeinsamen Sohn, der aber leider kein Interesse am Backhandwerk zeigt. 1991 übernahmen Haferkorns den Betrieb und musste erst einmal „viel in neue Technik“ investieren, sagen sie. Ein Einsatz, der sich gelohnt hat. Denn in den vergangenen Jahren gewannen ihre Stollen mehrere Preise, gleich zweimal hintereinander den Pokal des Grimmaer Weihnachtsmarkt; für Rezepturen, an denen Bäckermeister Bernd Haferkorn fortwährend feilt und dabei stets die Grundrezeptur seines Großvaters Walter Haferkorn im Auge hat. Der galt unter sächsischen Bäckermeistern einst als „Stollenpapst“, weil ihm immer wieder etwas Neues einfiel, das den Geschmack der Kunden traf. Das Besondere: Der kleine, Ende der zwanziger Jahre von Walter Haferkorn gegründete Betrieb hat den Krieg und selbst die vierzig unsäglichen DDR-Jahre unbeschadet überlebt.
Das tägliche Brot
Der kleine Traditionsbetrieb hat dafür gesorgt, dass die Stollenproduktion in Sachsen nie zum Erliegen kam und die Firma auch zu Beginn der siebziger Jahre nicht enteignet wurde, wie damals fast 99 Prozent aller noch verbliebenen Privatbetriebe. Wohl weil die Parteioberen wussten, dass es bei der Versorgung mit Brot, Brötchen und Kuchen nicht stocken durfte. „Weil die Funktionäre der SED wussten, dass Versorgungsengpässe mit dem `täglichen Brot` leicht Unruhen in der Bevölkerung provozieren, damals wie heute, und das weltweit“, sagt der Historiker und Buchautor Wolfgang Blaschke, geboren 1967 im mecklenburgischen Güstrow.
Im Windschatten des SED-Sozialismus sorgte Familie Haferkorn dafür, dass das traditionelle, sächsische Weihnachtsgebäck am Leben blieb, derweil dessen Dresdner Pendant bis 1989 beinahe aus der deutschen Erinnerungskultur verschwunden wäre, wäre am 9. November in Berlin nicht die Mauer gefallen. Dass die bis weit ins Mittelalter zurückreichende Stollenkultur aus Sachsen in der SED-Diktatur nicht zugrunde ging, ist nicht zuletzt einer Handvoll engagierter Bäcker, Gehilfen und ihrer Familien zwischen Leipzig und Dresden zu verdanken. „Und vielleicht auch noch ein paar Hundert Stollenpaketen, die Bundesbürger bis 1989 alljährlich zu Weihnachten aus dem fernen Dresden und Umgebung zugeschickt bekamen“, glaubt Historiker Blaschke, der sich in seiner Zeit als Unteroffizier bei der Nationalen Volksarmee (NVA) Mitte der achtziger Jahre daran erinnert, dass es zum Nachtisch im Unteroffizierskasino auch tatsächlich einmal stollenähnliches Gebäck gegeben hat.
Christliches Gebäck im Sozialismus
Das Problem: Die DDR schaffte es kaum, das edle Weihnachtsgebäck in ausreichender Stückzahl herzustellen. Und wahrscheinlich war sie unterschwellig auch gar nicht dazu geneigt. Denn Stollen gilt von jeher als christliches Gebäck, was der atheistischen Staatspartei SED ein Dorn im Auge war; wie fast alles, was sich bis zum Herbst 1989 in und rund um die Kirchen im Land abspielte. Heute leitet Blaschke, Absolvent der FU Berlin, einen Museumsverbund im Erzgebirge. Die Sache mit den Stollenpaketen aus Sachsen sei eine der vielen „noch nicht erzählten Geschichten“, die sich während der Teilung Deutschlands abgespielt haben, sagt er.
Doch zurück nach Grimma. Zu den Stammkunden der Bäckerei Haferkorn zählte auch der 2007 verstorbene Schauspieler Ulrich Mühe, der ein Jahr vor seinem Tod den Oscar für die Hauptrolle im Stasidrama „Das Leben der anderen“ gewonnen hatte. Mühe war gebürtiger Grimmaer. Und in der Goethestraße, einer kleinen, völlig unscheinbaren Seitenstraße am westlichen Stadtrand von Grimma, wird noch heute davon erzählt, wie Mühe in den neunziger Jahren zur Weihnachtszeit mehr als einmal mit seinem Freund und Schauspielkollegen Tom Cruise („Top Gun“, „Stauffenberg“) in der Bäckerei Haferkorn gesichtet worden war. Tom Cruise war 2007 einer der letzten, der den Krebs kranken Mühe noch kurz vor dessen Tod in seinem Privathaus in der Börde besuchen durfte. Doch ob der Hollywoodstar und bekennende Scientologe danach mal wieder in Grimma aufgetaucht ist, um sich dort mit Weihnachtsstollen einzudecken, konnte leider nicht bestätigt werden.